Kinder immer noch weitgehend im „Off“
Medizinische Forschung und Minderjährige: Das ist ein emotionales und komplexes Thema. Klinische Arzneimittelstudien schließen nur wenige Kinder und Jugendliche ein. Damit profitiert diese Bevölkerungsgruppe zu wenig vom medizinischen Fortschritt. Seit 2008 steuert die EU gegen – die angestrebten Effekte haben sich aber nur teilweise eingestellt.
EU-weit nahmen 2006 lediglich 3.213 Kinder und 435 Jugendliche an klinischen Arzneimittelstudien teil. Daher gibt es nur wenige Arzneimittel, die an Kindern geprüft und für Kinder zugelassen sind. Denn die Erforschung und Entwicklung von Medikamenten für Minderjährige ist eine hohe medizinische, ethische und rechtliche Herausforderung.
[glossar] Arzneimittelstudien an Kindern sind heikel :::
Bei Kindern sind weder die Organe noch das Immunsystem ausgereift. Sie haben einen anderen Fett- und Wasseranteil. Ihr Stoffwechsel reagiert nicht vorhersehbar auf ein Arzneimittel: Die Dauer von der Einnahme bis zu seiner Verarbeitung und Ausscheidung ist anders als bei Erwachsenen. Bei Säuglingen ist die Blut-Hirn-Schranke noch nicht so dicht. Arzneimittel können sie besser überwinden und dort ungewollte Reaktionen auslösen. Kinder sind eben keine „kleinen Erwachsenen“. Je nach Entwicklungsstadium unterscheiden sie sich auch innerhalb einer Altersklasse.
In Deutschland dürfen gesunde Minderjährige nur an klinischen Arzneimittelstudien teilnehmen, die der Diagnose und Prävention dienen. An therapeutischen Studien dürfen nur kranke Kinder mitwirken – wenn die Therapien wohl lebensrettend sind, die Gesundheit wiederherstellen, das Leiden erleichtern oder Kindern mit der gleichen Erkrankung nützen. [/glossar]
[glossar] Kindertherapien erfolgen meist „Off Label“ :::
Um die Situation rund um Kinderarzneimittel zu verbessern, hat die EU 2008 für ältere, bereits auf dem Markt befindliche Arzneimittel die „Paediatric Use Marketing Authorisation“ eingeführt, kurz: PUMA-Zulassung. Untersucht ein Hersteller ein bereits zugelassenes Medikament auf seine Wirkung bei Kindern, darf er das Mittel zehn Jahre lang exklusiv verkaufen. Allerdings sind PUMA-Zulassungen aufwändig, da zusätzliche Daten vorzulegen sind. Kein Wunder, dass es erst vier PUMA-Zulassungen gibt.
Wie reagieren die Kinderärzte? Sie verschreiben auf eigene Verantwortung nur für Erwachsene zugelassene Medikamente „Off Label“, also außerhalb ihrer Zulassung. Dabei sind sie auf Erfahrungen aus der Praxis angewiesen. Eine umfassende wissenschaftlich aufbereitete Sammlung von Erkenntnissen gibt es jedoch nicht. Wo doch solche Informationen Arzneimittel für Kinder sicherer machen könnten. Kinderärzte nutzen oft auch dann noch Medikamente „Off Label“, wenn es bereits eine für Kinder zugelassene Arznei gibt. Sie fürchten Regresse, da Therapien mit PUMA-Arzneimitteln oft teurer sind als Off-Label-Therapien. [/glossar]
[glossar] Mehr Studienteilnehmer, gleichbleibende Neuzulassungen :::
Ebenfalls seit 2008 schreibt die EU vor, neu entwickelte Arzneimittel auch an Minderjährigen zu prüfen. Um eine Zulassung für ein neues Arzneimittel zu erhalten, müssen Hersteller einen „Pädiatrischen Prüfplan“ einreichen. Von 2008 bis 2015 wurden 853 solcher Pläne genehmigt. So haben nun zwar 2015 schon 174.381 Kinder und 36.921 Jugendliche an Arzneimittelstudien in der EU teilgenommen. Dennoch gab es nicht mehr Arzneimittel-Neuzulassungen für diese Gruppe als davor. Und im Vergleich zu allen Zulassungen in Europa – etwa eine halbe Million – sind die zugelassenen Kinderarznei mittel nach wie vor überschaubar. Und damit auch die Therapiemöglichkeiten für Ärzte. [/glossar]
Es müssen nicht immer weitreichende Innovationen sein. Manchmal machen schon kleine Veränderungen einen großen Unterschied. Beispiel Darreichungsform: Säuglinge können noch keine Tabletten schlucken, Jugendliche lehnen Zäpfchen ab, Inhalatoren mit Atemmasken eignen sich für Kinder eher als solche mit Mundstücken. Doch die zusätzliche Entwicklung kindgerechter Darreichungsformen kostet mindestens eine halbe Million Euro. Das ist für kleine und mittelständische Hersteller oft zu viel. Insbesondere, wenn der Aufwand keine Anerkennung findet und nicht honoriert wird, weil dem in Deutschland hohe sozialrechtliche Hürden entgegenstehen. Zwar soll der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) bei der Bildung von Festbetragsgruppen künftig kindgerechte Darreichungsformen berücksichtigen. Gleichwohl bleibt hier noch einiges zu tun.
Text: Holger Wannenwetsch